Liebe Schwester, lieber Bruder, erlaube mir, dass ich mich selber bekannt mache: Am 2. Januar 1873 wurde ich in Alencon, einer Stadt in der Normandie, geboren. Nach dem Tod meiner Mutter – ich war noch keine fünf Jahre alt – zogen wir (mein Vater und meine vier älteren Schwestern) in das benachbarte Lisieux. In der neuen Umgebung fühlte ich mich zunächst ganz wohl, doch seit der Schulzeit ging es mit meiner körperlichen und seelischen Gesundheit immer mehr bergab. Erst mit 14 Jahren kehrte meine volle Stabilität wieder zurück. Gott selbst hatte eingegriffen, um mir zu zeigen, dass ich ohne ihn nichts vermag. Gott Freude zu machen, davon war ich durchdrungen, seit ich denken konnte. Jetzt wollte ich mich ihm ganz schenken in der Absicht, an der Bekehrung der Sünder mitzuwirken. Obgleich noch ein Kind, wollte ich nicht länger warten, da ich die innere Ahnung hatte, nicht alt zu werden. Nachdem ich Himmel und Erde in Bewegung gesetzt hatte, wurde ich 15jährig in das Kloster der Karmelitinnen von Lisieux aufgenommen. Das Klosterleben in seiner Strenge war für mich kein Problem, doch Gott in den Menschen zu lieben, hat mich oft viel gekostet. Hätte ich dabei nur auf meine eigene Kraft gebaut, wäre ich bestimmt kläglich gescheitert. Doch im Vertrauen auf die göttliche Barmherzigkeit ist mein Leben – es währte nur 24 Jahre – gelungen. Selbst in der äußersten Verlassenheit meiner Todeskrankheit hat mich der Glaube gehalten. Das Besondere an meinem Leben ist nicht mein Verdienst, sondern die erbarmende Liebe Gottes. Sich seiner Liebe zu überlassen und in Treue und Tapferkeit all die kleinen Liebeserweise zu erbringen, die der Alltag fordert, dazu möchte ich Dich ermutigen und auf diesem Weg begleiten.
Therese wollte von Jugend an eine Heilige werden. Doch beim Vergleich mit den großen Vorbildern kam sie sich unendlich klein vor. Dennoch sagte sie sich: „Wenn Gott keine unerfüllbaren Wünsche eingibt, dann muss es für mich einen Weg zur Heiligkeit geben.“ Im Studium der Hl. Schrift und im intensiven Nachdenken gewann sie wertvolle Einsichten:
- Mich selber größer zu machen ist unmöglich! Ich muss mich ertragen wie ich bin.
- Es ist gar nicht nötig, durch mein eigenes Bemühen zu wachsen.
- Jesus verlangt von mir keine großen Taten, sondern nur Hingabe und Dankbarkeit.
- Ich habe kein anderes Mittel, um Gott meine Liebe zu beweisen, als aus Liebe zu ihm auch die allerkleinsten Dinge zu tun.
- Ich bin mir meiner eigenen Nichtigkeit bewusst und erwarte alles von Gott.
- Ich lasse mich wegen meiner Fehler nicht entmutigen.
Kurz vor ihrem Tod sprach Therese noch einmal eindringlich über ihre Sendung: „Ich will die Menschen lehren, Gott so zu lieben, wie ich ihn liebe und ihnen meinen kleinen Weg geben. Ja, ich will meinen Himmel damit verbringen, auf Erden Gutes zu tun.“ Der kleine Weg … auch für mich? Bis auf den heutigen Tag gehen Millionen von Menschen in aller Welt den „Kleinen Weg“, indem sie versuchen, die Aufgaben des Alltags in Liebe zu erfüllen, denn: „Vor Gott zählt nicht der Verdienst, sondern allein die Liebe.“ Anstelle hochfliegender Pläne für morgen, soll ich das heute verwirklichen, was diese Stunde und Minute von mir verlangt, unscheinbare Dinge und Taten wie zum Beispiel:
- Durch ein Lächeln, wenn ich lieber ein missmutiges Gesicht machen möchte.
- Durch ein Wort, das ich nicht sage, obwohl es mir auf der Zunge brennt.
- Durch einen kleinen Verzicht auf ein erlaubtes Vergnügen.
- Indem ich einen unangenehmen Menschen bewusst ertrage.
- Indem ich eine lästige Arbeit nicht aufschiebe.
- Indem ich ein Gebet geduldig zu Ende führe.
Durch die kleinen Liebesakte bleibe ich ständig in lebendiger Verbindung zu Gott. Therese vergleicht sie mit Strohhalmen, die dem Feuer der Gottesliebe immer wieder neu Nahrung geben. Das einzige, was der „Kleine Weg“ verlangt, ist Ausdauer – ein Leben lang. Doch seien wir unbesorgt. Der, der uns die Gnade des Anfangs gibt, ist treu und wird uns helfen, den einmal eingeschlagenen Weg auch zu vollenden.